Schon im Juni 1989 durfte ich in den Westen reisen, um meine kranken Eltern zu besuchen; sie waren 1974 in die Bundesrepublik übergesiedelt, nachdem mein Vater als Pfarrer in den Ruhestand gegangen war. Obwohl ich mich dabei nicht besonders wohl fühlte, holte ich beim zuständigen Amt das Begrüßungsgeld ab und beantragte auch gleich einen bundesdeutschen Reisepass. Es hatte etwas Demütigendes, als Mensch zweiter Klasse wie um Almosen zu betteln. Aber ich habe es getan und damit das Beste gemacht, was man als Ostler im Westen tun konnte, ich wollte reisen!
Auch von der DDR aus war ich viel gereist und hatte „Unerkannt durch Freundesland“ – so der Titel eines Buches dazu – die ganze Sowjetunion bereist, das Baltikum, wo meine Vorfahren herstammten, Russland, Sibirien, den Kaukasus, Georgien, aber jetzt wollte ich endlich auch Westeuropa sehen.
Im Juli 1989 besuchte ich erneut meine Eltern, holte meinen inzwischen fertigen Reisepass ab und raste mit meinem estnischen Freund Mati im Auto der Eltern eine Woche lang durch Italien: Ravenna, Florenz, Siena, Bologna, Rom, Neapel! Neben den wahnsinnigen Museen, Kirchen, der toskanischen Landschaft, in der wir zufällig auch noch die Hochzeit meines Freundes Marcello erlebten, rührte mich besonders die kleine Stadt San Gimignano. Die Adelstürme erinnerten mich an die Wohn- und Wehrtürme im Kaukasus, und als ich auf einer Ausstellungseröffnung auch noch entdeckte, dass es hier einen natürlich gekelterten Wein gab, der genauso schmeckte wie der in Georgien, war ich vollends begeistert. Da wurde mir klar, dass Europa eins ist und zusammengehört! Auch wenn ich es vielleicht nicht mehr erleben werde, träume ich seitdem von den Vereinigten Staaten von Europa, in denen man stolz sagt: „Ich bin Europäer“!