Potraitfoto Andreas Geisel

Andreas Geisel
52 Jahre
Dresden

Ich habe zu der Zeit in Dresden studiert. Am 9. November war ich mit Freunden abends aus, und als wir spätabends ins Studentenwohnheim zurückkamen, feierten alle. Als sie uns erzählten, die Mauer sei gefallen, habe ich das an dem Abend so richtig nicht glauben können. Und auch am nächsten Tag war ich vormittags ganz ordentlich im Seminar und dann sogar noch in einer Klausur, aber in den Westen wollten wir dann schon. Nach Berlin natürlich, wohin sonst? Ich bin schließlich Berliner. In Dresden – wir hatten ja kein Westfernsehen – hielt sich das Gerücht, man brauche ein Visum. Also stand ich an diesem Freitag noch vier Stunden auf dem Dresdner Polizeirevier an, um mir den Personalausweis stempeln zu lassen. Als ich dann nach der nächtlichen Zugfahrt morgens gegen sechs an der Sonnenallee das erste Mal rüber nach West-Berlin gelaufen bin, wollte aber niemand meinen Ausweis sehen. Auf den DDR-Stadtplänen war der Westteil der Stadt ein weißer Fleck, ich wusste also gar nicht, dass die Sonnenallee so elend lang ist!

Das Begrüßungsgeld habe ich mir dort an einer Sparkasse abgeholt. Da stand ich neben einem Obst- und Gemüseladen an. In dessen Auslage wirkten sogar die Pflaumen sortiert. Es war alles so unwirklich – der Mauerfall war das Glück meines Lebens, ein lang herbeigesehntes Ereignis. Und als er dann plötzlich Realität war, sah ich auf der Sonnenallee auch nur Menschen und Häuser, Bäume und Straßen, sogar mit denselben alten Granitplatten wie bei uns. Obwohl die Welt dort doch hätte Kopf stehen müssen. Alles war so komisch normal. Ebenso meine erste West-Hose: Bei Karstadt am Hermannplatz kaufte ich mir von meinem Westgeld einige Tage später eine Levi’s 501, mit einem leichten Stonewashed-Effekt. Ja, das war damals modern.

Ich hatte mir diese Hose so lange gewünscht. Und als ich sie dann anhatte, war es einfach eine Hose.