Ich war im November 1989 auf Betriebsfahrt von Weimar nach Berlin. Wir besuchten abends eine Disco in Friedrichshain. Plötzlich wurde die Musik für „eine wichtige Mitteilung“ der DDR-Regierung unterbrochen: die Pressekonferenz, auf der Günter Schabowski die Öffnung der Mauer verkündete. Wir schauten uns an: „Was hat der gerade gesagt?“ Dann sind wir mit der S-Bahn zum Grenzübergang Friedrichstraße. Anfangs waren da nur rund zehn Menschen, dann wurde es immer voller. Wir standen in der ersten Reihe. Von hinten wurde gedrückt und gerufen: „Die Bornholmer Straße lässt schon durch!“
Ich sagte zu meinen Kollegen: „Ich renne zum Diplomatenübergang, da stehen die Amerikaner, die schicken keinen zurück!“ Gesagt, getan. Nach dem schnellsten Lauf meines Lebens stand ich auf dem Lehrter Bahnhof. Bald kamen auch die Kollegen. Um 0.30 Uhr des 10. November 1989 standen wir vor der Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche auf dem Kurfürstendamm. Es war eine tolle Nacht: Überall wurden wir herzlich begrüßt und es wurde gefeiert in den Kneipen. Das vergisst man nicht.
Am nächsten Tag gingen wir wieder rüber. Jeder DDR-Bürger wusste, dass es das sogenannte Begrüßungsgeld gibt. Also stellten wir uns an und erhielten den blauen 100-DM-Schein. Wir kauften für unsere Familien ein, wir wussten ja, was die brauchten: Kaffee, Strumpfhosen, Gurken, Tomaten, Kakao etc. Und Bananen für meinen Neffen, der im August geboren wurde und bis dato noch nie Bananen gegessen hatte, weil es die in der DDR nicht gab. Ich brauchte Unterwäsche, die war im Osten ja auch Mangelware. Und ich kaufte mir das Buch „5 Tage im Juni“ von Stefan Heym über den Arbeiteraufstand in der DDR 1953, das bei uns verboten war. Neben der materiellen Nahrung hatte ich auch Hunger nach geistiger Nahrung!
Es war eine tolle Zeit, auch danach, sie war von Aufbruch und Hoffnung geprägt, nicht von Neid, Vorwürfen und Ängstlichkeit, wie heute.